Ein goldener Herbst im 2018 erwartet uns. Wir sind aufgeregt, grosses geschieht. Unser älterer Sohn Michael will heiraten. Die Ziviltrauung sollte im Tessin stattfinden. Logisch, Micha und seine Frau Linda sind schon lange Tessin-Fans. Es kann auch gar nicht anders sein, weil wir als Familie mit unseren zwei Söhnen, immer wieder ins Tessin gefahren sind.
Wir wussten nichts, ausser dem Datum, der 14. September, die Zeit und der Ort, wo wir uns treffen sollten. Ich war sehr gespannt, freute mich und überlegte was uns wohl erwartete? Mit Peter konnte ich nicht mehr diskutieren, obwohl ich ihm die Karte zeigte und ihm erzählte: «Peter: Michael und Linda heiraten und wir fahren alle ins Tessin und nehmen an der Trauung teil!» Er realisierte das kommende Ereignis nicht mehr recht. Das stimmte mich traurig und ich wurde mir zunehmend wieder bewusst, Peter lebt in seiner Welt, er entgleitet uns mehr und mehr und kann sich nicht mehr mit uns austauschen und freuen.
Nun, zuerst beschlossen wir uns neu einzukleiden. Peter hatte lange keinen Anzug mehr getragen. Das Anprobieren gestaltet sich relativ schwierig, die Kabinen waren eng, es war heiss, Kleider an, Kleider aus, dass passte nun doch nicht, dies war zu gross, oder dies zu klein etc… Der Verkäufer hatte eine Engelsgeduld. Natürlich hatte ich ihn vorab über die Demenz von Peter informiert. Schlussendlich hatten wir einen tollen, sehr schönen, dunkelblauen Anzug gefunden. Das Hemd hatte einen ganz leichten rosé Ton und ein Einstecktuch rundete das Bild ab. Die Hosen mussten noch etwas gekürzt werden und auch die Schuhe passten perfekt dazu.

Im tessin
Der Tag rückte heran und wir beschlossen, mit meinen Eltern, beide schon weit über 80, bereits einen Tag früher ins Tessin zu fahren. Ich suchte eine kleine, hübsche Pension und wir bezogen unsere Zimmer. Peter kam natürlich überall hin mit, machte so gut wie er es vermochte mit. Aber, der Anlass, warum wir jetzt konkret im Tessin waren, wurde ihm nicht bewusst. Am 14. September dann, trafen wir das Brautpaar, die Trauzeugen und die eingeladenen Gäste. Plötzlich hupte es und ein altes Postauto fuhr vor. Damit fuhren wir auf die Piazza Grande, direkt in Locarno, vor das Standesamt. Wir alle nahmen an der Trauung in diesem wunderschönen, alten Palazzo teil. Es war für uns sehr berührend, feierlich und schön. Ach Peter, wenn du doch das alles noch so richtig wahrnehmen könntest!
Anschliessend bestiegen wir das Postauto und es ging direkt zum Apèro. In einem wunderbaren, alten Grotto, hoch über dem Lago Maggiore, sassen wir beieinander, genossen das Zusammensein und die wunderbare Aussicht.
Die grösste Überraschung jedoch, wartete noch auf uns. Wir, alle Gäste, bekamen ein Glückslos. Selbstgemacht von Linda, kreativ wie immer, und wir durften das Los aufrubbeln. Welche Überraschung, als wir ein Ultraschallbild von unserem zukünftigen Grosskind sahen! Er oder sie sollte im März, im kommenden Jahr, auf die Welt kommen. Ich freute mich riesig und auch wenn ich es Peter zu erklären versuchte, gelang es mir nicht, meine Freude mit ihm zu teilen.
Der Abend klang bei einem feinen Nachtessen, direkt am Lago Maggiore aus. Ein wunderbarer Sonnenuntergang beschloss den Tag. Dies war einer dieser Tage, der mir wahrscheinlich bis an mein Lebensende im Gedächtnis bleiben wird. Die Familie beisammen, alle gute Laune, herrliches Wetter, freudige Überraschungen, feines Essen und ein Brautpaar, dass zusammen bald als Familie, in die Zukunft unterwegs war.
Mir wurde wieder einmal deutlich bewusst, wie wichtig die Familie ist, die gegenseitige Unterstützung, das gut aufgehoben sein, einfach bei Menschen denen ich vertrauen kann.
Was eine Familie grundsätzlich leistet
Familie definiere ich durch ein emotionales und soziales Netzwerk. Für mich ist eine Familie eine Anzahl von Menschen, die ein starkes gegenseitiges Zusammengehörigkeitsgefühl aneinanderbindet. Mit unserem Familiensystem sind wir auf eine gewisse Weise immer verbunden, ich sehe dies als Stamm des Lebens. Wer bin ich und wo komme ich her. Die ganze Sozialisation findet in der Regel in der Familie statt. Jeder braucht eine Form von Familie, um Mensch zu werden. Für die Gesellschaft übernimmt sie die Bindungsentwicklung, denn im Schutz der Familie lernt man im Idealfall nicht nur sich selbst gut kennen, sondern auch, mit anderen auszukommen und mit den Anforderungen der Umwelt umzugehen. Ein schöner Satz: Familie sind die Menschen, die einen erden und die einem hoffentlich auch Flügel geben.
Ich hoffe fest, dass Peter das auch so empfindet, dass er merkt, dass ihm alle wohlwollend begegnen und ihm nur Gutes tun möchten. Ich bin sicher er merkt, dass er nach wie vor Teil unserer Familie ist, dass wir ihn unterstützen und wir ihn uneingeschränkt liebhaben!