Wenn jemand an Demenz erkrankt ist, bleiben seine Gefühle lange Zeit unbeeinträchtigt. Da die Krankheit sich schleichend entwickelt, nehmen erkrankte Menschen ihre ständig umfangreicher werdenden Einbussen und Gedächtnisverluste bis in fortgeschrittene Krankheitsstadien hinein wahr. Das war bei Peter genauso.
Velo fahren
Peter hatte plötzlich eine neue Idee und wollte sich unbedingt ein Fahrrad anschaffen. Hier Zuhause hatten wir keines, wir waren ja meistens mit dem Motorrad oder dem Auto unterwegs. Im Tessin jedoch hatten wir Fahrräder, da fuhren wir oft nach Ascona oder Locarno, um den Markt zu besuchen, oder etwas einzukaufen. Richtig begeistert war ich nicht, er musste auf dem Velo Risiken und Distanzen und Geschwindigkeit einschätzen können. Ich betrachtete es als gefährlich. Er beharrte aber darauf, wenn schon kein Auto und kein Motorrad mehr für ihn, dann wenigstens ein Velo, so seine Aussage. Nun gut, wir schauten uns um und fanden ein passables Velo beim Händler. Vorerst stand das Fahrrad mal eine Zeitlang im Schuppen. Plötzlich war ihm das Fahren, so schien es, doch gar nicht mehr so wichtig.

Sein schönes Motorrad habe ich übrigens mit seinem Einverständnis, bereits im 2015 ausgeschrieben. Jemand hat es tatsächlich gekauft und hatte auch grosse Freude daran. Peter war da, als das Motorrad abgeholt wurde, er zeigte aber kaum eine Reaktion.

An einem Tag, ich war im Garten beschäftigt, holte er das Rad hervor. Richtigerweise zog er sich den Helm an und lief mit dem Rad den Hügel hinauf. Oben angelangt wollte er aufsteigen und fahren, es gelang ihm aber nicht. Es sah aus, als wüsste er nicht mehr wie Velo fahren, oder seine Koordination klappte einfach nicht mehr. Er stieg sofort wieder ab, kam nach Hause, versorgte das Velo im Schuppen und hat es nie mehr angerührt.

Auch seine Holzarbeiten hatten nicht mehr die gleiche Präzision. Oft hatte er falsch gemessen, dann gesägt und das Brett passte nicht mehr. Es kam auch vor, dass er nicht alle Schrauben richtig festgeschraubt hatte. Seine Holzsachen waren manchmal asymmetrisch und etwas schief geraten.
Verlust und Enttäuschung
Welche Enttäuschung muss es für ihn gewesen sein, wenn wieder etwas nicht klappte und wieder war ein Stück Lebensqualität dahin. Ich kann mir gut vorstellen welchen Frust das auslösen kann und so wunderte es mich nicht, war Peter ab und zu «hässig».
Welche Gefühle wohl in Peter tobten, wenn er einem Gespräch nicht mehr richtig folgen konnte. Die Frustration, die dies auslöste, äusserte sich manchmal in Irritation, ein anderes Mal in Aggression. Sicher hatte er auch Phasen der Angst, vor dem Verfall, vor seiner Demenz, vor dem Verlust der Lebensqualität und seines gewohnten Lebens.
Wie schwierig musste es für ihn gewesen sein, wenn ihm ein Wort auf der Zunge lag und wir warteten gespannt und er konnte es nicht benennen. Wir zeigten dabei eine mitleidige Nachsicht, die er natürlich bemerkte. Wie muss es für ihn gewesen sein, wenn er etwas holen wollte und dann nicht mehr wusste welchen Gegenstand er suchte? Oder überhaupt nicht mehr wusste, in welchem Zimmer der Gegenstand sich befand. Seine Schreibkünste waren verschwunden, nur noch die Unterschrift war möglich, und lesen, auch wenn es nur ein Prospekt war, tat oder konnte er nicht mehr. Peter erlebte den Verlust dessen, was er früher einmal problemlos konnte als peinliche Ausfälle, denen er ausgeliefert war. Ich glaube Peter hatte das Gefühl, dass die Welt unter seinen Füßen wegrutschte, er verlor den festen Boden.
Er fühlte sich den Vorgängen schutzlos ausgesetzt, die sich um ihn herum abspielten und sah keine Möglichkeit, selbst etwas an seiner Situation zu verändern. Am Anfang der Demenz konnte er vieles noch kaschieren oder er hatte seinen vortrefflichen Humor, mit dem er vieles überspielte.
Später gelang dies dann nicht mehr und da waren wir als Angehörige zunehmend gefordert. In dieser Zeit haben wir auf folgendes geachtet:
Keine Kritik…
Wir versuchten keine Kritik, oder Korrekturen oder gar Vorwürfe zu machen, dies verunsicherte Peter, brachte ihn in Verlegenheit und hatte natürlich keinen positiven Effekt. Das ist bei Menschen ohne Demenz ja auch nicht anders.
… dafür loben
Wir versuchten ihn möglichst zu loben, ihm zu zeigen, dass er noch so viel gut konnte. Das tat ihm gut und sein Selbstwertgefühl wurde dadurch gestärkt und verbessert.
Fragen stellen
Oft wurde Peter durch Fragen aus dem Konzept gebracht und stellten ihn vor eine Herausforderung. Er musste sich entweder entscheiden, er musste sich an etwas erinnern, und er musste etwas erklären. Oft gar nicht einfach. Einen Grossteil der Schwierigkeiten konnte man Peter durch das richtige Fragen abnehmen.
Ja und Nein-Fragen
Bei dieser Art von Fragen wurde Peter vor eine sehr einfache Wahl gestellt. Er konnte einfache Antworten geben. Hast du Durst? Ja oder nein und nicht willst du jetzt oder später, oder Mineral, oder Kaffee. Wir versuchten auch die sogenannten W Fragen zu vermeiden. Vor allem warum und wieso und woher brauchten wir kaum noch. Da gab es ja immer eine Auswahl und verschiedene Alternativen, was für ihn schwierig war.
Zeit für eine Antwort lassen
Peter fiel oft das Antworten schwer, er musste durch den zunehmenden Verlust der Sprache nach den richtigen Worten suchen. Dafür brauchte er Zeit und diese Zeit versuchten wir ihm zu geben. Sonst kam er in eine Stresssituation und er ärgerte sich. Wir mussten auch versuchen achtsam zu sein, und ihn nicht zu sehr zu bevormunden.
Das klingt jetzt alles sehr einfach, das war es aber nicht und ich bin oft in die alten Muster gefallen und habe mich dann über mich selber geärgert.
Kontakte und Freizeit
Peter war immer ein geselliger Mensch und wir achteten darauf uns weiterhin mit Freunden zu treffen. Wir haben auch unsere gemeinsamen Tätigkeiten, wie einkaufen, zusammen Kaffee trinken, oder an eine Ausstellung gehen, weiter gepflegt. Wanderungen haben wir nach wie vor gemacht und regelmässig sind wir auch zusammen in die Ferien gefahren. Kurz gesagt, wir hatten dass «normale Leben» möglichst weitergeführt. Ich bin heute überzeugt, dass sich dies sehr positiv auf den Verlauf der Demenz von Peter ausgewirkt hat.


Super gschriebe
Haut wie gäng 😘
Von meinem iPhone gesendet
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Liebe Regina, so umfangreich und vielsagend Deine Aufzeichnungen auch sind, so traurig sind sie aber für Aussenstehende.
Ich wünsche Dir weiterhin viel Kraft und Zuversicht.
Häb e gueti nöji Wuche mit vill ☀️-Schy.
♥️ – lich
Manni