Vor Peters Demenz, haben wir über Pfingsten, stets etwas unternommen. Unternommen heisst, mit unseren Motorrädern haben wir jeweils eine Tour gemacht. Toskana, Piemont, Provence, oder eine Runde durch Deutschland waren beliebte Ziele. Meistens haben wir nicht nur das verlängerte Wochenende gehabt, sondern gleich eine ganze Woche oder zehn Tage angehängt, so dass sich die vielen Kilometer, die wir unter die Räder nahmen, auch lohnten.
Nun hatten wir uns überlegt die Pfingsten an der Nordsee, in Belgien zu verbringen. Wir beide waren noch nie für längere Zeit in Belgien und wollten auch dieses Land erleben und kennenlernen. Peter hatte einen Bezug zu den Beneluxländern. Liebte die Mentalität und die Sprache. Er hatte in jungen Jahren für fast ein Jahr, in Holland, eine Arbeitsstelle.
Belgische Küste
Wir wussten, Belgische Küste bedeutete lange Strände, stetiger Wind, kaltes Wasser, aber auch gute Luft und Erholung pur. Der 67 Kilometer lange Küstenstreifen ist die Nordseeerholungsmeile Belgiens. Vierzehn Badeorte reihen sich an den bis zu 700 Meter breiten Stränden aneinander. Wir entschieden uns in De Haan einen Bungalow zu mieten.

Die Fahrt verlief gut, Peter war guter Dinge, und ich glaube er freute sich. Autofahren gehörte nach wie vor zu seinen Lieblingsbeschäftigungen. Er nahm die Umgebung wahr, schaute oft aus dem Fenster und kommentierte auch ab und zu was er sah.
Unser Bungalow war perfekt, ein grosser Garten, eingezäunt, Holzliegen zum sich Sonnen, eine Lounge, zum Sitzen und sogar eine kleine Sauna standen uns zur Verfügung. Der Bungalow war zwar nicht direkt am Meer, aber dafür ruhig, in einem Quartier gelegen.

Peter hatte Mühe sich im Haus zu orientieren. Zum Glück hatte die Haustüre ein Schnappschloss und war somit immer abgeschlossen und konnte nur mit dem Schlüssel geöffnet werden. Das Badezimmer und unser Schlafzimmer, musste ich ihm immer wieder zeigen. In der Nacht war er orientierungslos und so begleitete ich ihn regelmässig zur Toilette. Alles andere konnte er damals ohne meine Hilfe noch gut. Sich ankleiden, duschen, helfen den Frühstückstisch zu decken, abwaschen, den Garten erkunden und seine Tabakpfeife rauchen…
Gleich am ersten Abend spazierten wir ans Meer, liefen durch den Sand und schauten dem Sonnenuntergang zu. Der Wind, ja der zerrte an unseren Kleidern und es war recht kalt. Aber das gehört nun mal zur Küste und zur Nordsee.

Ich versuchte, später am Abend, Peter auf der Karte zu zeigen, wo genau wir uns befanden. Ich versuchte ihm auch zu erklären, welchen Ausflug wir am nächsten Tag machen wollten. Ich glaube er war müde, abwesend und etwas verwirrt von der langen Reise und nicht mehr aufnahmefähig.
In der Nacht kreisten meine Gedanken. Überforderte ich Peter mit dem Reisen? War es für ihn zu anstrengend, sich an die neuen Begebenheiten anzupassen? Wusste er wo wir uns befanden? Würde es am nächsten Tag besser werden und er sich auch ein wenig freuen? Mich plagten Selbstzweifel, ob ich auf dem richtigen Weg war. Mir war es ein Bedürfnis, dass Peter sich wohl fühlte, ich wollte ihm noch möglichst viel zeigen, ihm schöne Erlebnisse ermöglichen. Solange es für ihn eben ging und er sich nicht gestresst fühlte. Zudem wollte auch ich immer wieder Neues entdecken und auch meinen Bedürfnissen gerecht werden. Sicher eine Gratwanderung, die wir nun meistern mussten.
De Haan
Am anderen Tag sah die Welt schon anders aus. Nach einem feinen Frühstück in unserem schönen Garten, machten wir uns auf den Weg. Eine Besonderheit an der Küste ist die Küstenstrassenbahn. Sie fährt 70 Haltestellen an und ist mit ihren 67 Kilometern die längste Straßenbahnlinie der Welt. Nirgendwo anders auf der Welt kann man ohne Umsteigen so lange mit einer Straßenbahn fahren. Die Bahn ist bereits seit 130 Jahren in Betrieb. Die Aussicht der Küste entlang ist sehr schön und sehenswert. Viele Seebäder, wie Zeebrugge, Knokke, oder Blankenberge luden zum Verweilen ein. Das schönste Städtchen aber, so wurde uns gesagt, war de Haan, da wo wir wohnten. De Haan ist ganz und gar der Belle Epoque verschrieben. Hier finden sich kaum Hochbauten. Der typische Baustil mit den roten Dächern, den Balkonen, den Toren und Fachwerkgiebeln bestimmt nicht nur den Anblick, sondern auch die Atmosphäre im Badeort.
Die Dünenwälder von De Haan sind eine der grünen Perlen an der Küste. Wir fanden dort sowohl offene Dünenlandschaften mit der typischen Fauna und Flora der Küste, als auch ausgedehnte bewaldete Dünen, die wir zu Fuss erkundeten.
Brügge
Mit dem Bus fuhren wir nach Brügge, eine Stadt, die man unbedingt gesehen haben musste, so die Aussage eines Freundes.
Wir hatten das Gefühl das Mittelalter weht noch über die Brücken und Kanäle von Brügge. Das Venedig des Nordens wird als eine der schönsten Städte Europas bezeichnet. Vor allem das Gesamtbild aus Wasser, der sich darin spiegelnden kleinen Häuser und dem Grün der Bäume ist ein absolut malerischer Anblick. Die vielen kleinen Brücken sorgen zusätzlich für ein romantisches Flair. Der 88 Meter hohe Belfried ragt über den Grote Markt, dem schönsten Platz in Brügge. Wir leisteten uns eine Bootsfahrt durch die Grachten, ein besonderes Erlebnis aus einer anderen Perspektive. Zum Schluss liessen wir es uns nicht nehmen in einer Brauerei ganz verschiedene Biere zu degustieren. Sehr speziell war es die verschiedenen Aromen herauszuschmecken und auch die Umgebung passte perfekt. Alte riesige Eichentische standen in der Brauerei und luden zum Verweilen ein.



Eigentlich wollten wir auch noch Antwerpen besuchen, aber es kam anders. Am zweiten Tag hatten wir Pech. Wie bereits beschrieben, wohnten wir in einem ruhigen Quartier. Ruhe auch deswegen, weil es Schwellen zur Temporeduktion für die Autos hatte. Mein Auto, nein eigentlich ich, nahm eine Schwelle mit Schwung und dabei ist es passiert, ein Stossdämpferbruch! Nun hiess es dringend eine Garage finden. Es war Pfingsten und dennoch trieben wir einen freundlichen Garagisten auf. Er bestellte mir einen neuen Stossdämpfer und das Auto war dann wenigsten für unsere Rückfahrt in die Schweiz wieder flott.
Mir hatten die kurzen Ferien in Belgien gut getan und ich könnte mir vorstellen später wieder einmal hin zu fahren. Peter machte alles gut mit, schien zufrieden zu sein, aber ob es ihm gefallen hatte, war recht schwierig herauszufinden.

Verlust
Diese Ferien hatten mir gezeigt, dass die Veränderungen an Peter immer deutlicher zu bemerken waren. Kleine Stücke, noch Bruchteile, von seinem Wesen verschwanden nach und nach.
Wenn ich so zurückdenke, als Peter noch keine Demenz hatte, wie ich all meine Sorgen einfach in Peters Hände legen konnte. Er war der «Macher» er packte an und eine Panne wie mit dem Auto beschrieben, wäre für ihn ein Klacks gewesen, nicht der Rede wert. Ach, was Peter alles konnte und für uns in Ordnung brachte. Für ihn waren Probleme zum Lösen da.
Ich wurde zusehends in eine völlig neue und andere Rolle gedrängt. Unser Gefüge kam aus dem Gleichgewicht und meine Aufgaben und meine Verantwortung nahmen zu. Die emotionale Nähe nahm ab und ich musste viele Entscheidungen treffen und alles, das wir sonst gemeinsam schafften, alleine bewältigen. Reden klappte nicht mehr gut, oft hatte ich das Gefühl Peter versteht nicht mehr was ich ihm sagen und mit ihm besprechen möchte. Oft hatte ich das Gefühl er entschwindet mir Stück um Stück und es gibt keine Rückkehr… Der Verlust war mir bewusst und eine stetige Trauer war da und begleitete mich.
Pingstferien, Belgien 2017
Liebi Regina.
Schön für Euch, dass ihr damals Eure Ferien am Meer und in den interessanten Dörfer und Städten Belgiens erleben durftet. Tempi passati….. So ist es im Leben, was der Mensch mal erleben durfte, das kann ihm niemand mehr wegnehmen.
Es ist schon bemerkenswert, wie Du solche Ferienreisen für Peter’s „Beschäftigung seiner Gedanken“ und Abwechslung immer wieder vorbereitest und durchziehst. Sicher auch für Dich eine Ablenkung vom vollbelasteten Alltag.
Mögen Euch beiden noch viele solcher schönen und eindrücklichen Erinnerungen beschieden sein.
in diesem Sinne: Häbed’s guet.
Liebi Grüess vom Thunersee
Manni
Danke Manni
Im Moment leben wir wirklich von den Erinnerungen. Es sind leider keine Reisen und Ausflüge mehr möglich.
Jeden Tag nehmen wie er kommt und das Beste daraus machen:-)
Liebe Grüsse aus dem verregneten Flugbrunnen
Danke Veronika!
Es macht mir Freude und ich kann vieles verarbeiten.
Zudem entsteht eine Geschichte, über unser Leben mit Demenz, die hoffentlich vielen Betroffenen hilft.
Liebe Gruess
Du schreibst sehr gut Regina!
Herzliche Grüsse
Veronika